Die zwischen 1730 und 1742 gepflanzte und 2004 durch einen neuen Baum ersetzte Linde markiert das Zentrum der alten Stadt, eine öffentliche „Säule“ auf dem Platz, auf dem viele wichtige Debatten abgehalten wurden.
Im Ancien Régime ist die Linde das symbolische Herz der Stadt; in den meisten Städten wird nicht weit vom Marktplatz und vom Rathaus eine Linde gepflanzt. Die Zünfte und Bruderschaften treffen sich meist „unter der Linde“. Es gibt Zeugnisse solcher Aktivitäten in Bulle, Rue, Romont, Freiburg und Estavayer. Der Baum ist auch eine Art öffentliche Plakatsäule: 1781 wird die Personenbeschreibung des Aufständischen Pierre-Nicolas Chenaux an der Linde angeschlagen. In Bulle gibt es noch eine zweite Linde, auf dem Vorplatz der Kirche, die dieselbe Funktion innehatte.
Auf einem Stich von David Herrliberger von 1758 ist die Linde in der Nähe des Rathauses von vier anderen Bäumen umgeben, die den darunter aufgestellten Bänken Schatten spenden. Als im Jahr 1798 die französischen Truppen in die Schweiz einmarschieren und das Regime der Helvetischen Republik einführen, wird der erste „Freiheitsbaum“ des Kantons, das Symbol der revolutionären Ideen, auf der Linde von Bulle aufgerichtet.
Der Baum überlebt die Feuersbrunst von 1805. Gegen 1850 widmet ihm der Anwalt, Politiker und Literat Nicolas Glasson ein langes Gedicht mit 17 Strophen, die „Stances au tilleul de Bulle“ (Stanzen für die Linde von Bulle). Ein Auszug:
Que de mots dits sous ton feuillage
Joyeusetés, propos grivois
Récits de Nestors de village
Et sentences de vieux Bullois
Sous ta verte et splendide arcade
Tu gardes aussi tes regrets
De Chenaux tu vis la croisade
Et tu pleuras sur ses cyprès
Tu vis la flamme désastreuse
Briller dans Bulle épouvanté
Monter, bondir victorieuse
Puis s’éteindre avec la cité
(Wie viele Worte fielen unter deinen Blättern
Scherze und Anzüglichkeiten
Geschichten von Nestoren des Dorfs
Und Sprüche alter Buller
Unter deiner prächtigen grünen Arkade
Bewahrst du auch deine Trauer
Du hast den Kreuzzug von Chenaux gesehen
Und hast über seinen Zypressen geweint
Du sahst die verheerende Flamme
Im entsetzten Bulle glänzen
Wie sie aufstieg, siegreich aufflackerte
Und dann mit der Stadt verlosch)
„Les Poètes de la Gruyère“, La Gruyère Illustrée, Heft VI, 1898.
Gegen 1850 wird die Linde mit sechs Pfeilern und einem Rahmen aus Stein eingefasst. Auf einem der Pfeiler ist ein Gegenstand befestigt, der sich heute im Musée Gruérien befindet: Eine Halbelle, eine Masseinheit für Strohgeflechte. Dieser Wirtschaftszweig ist zwischen 1830 und 1890 voll im Aufschwung.
Ende des 19. Jahrhunderts steht der Baum immer noch auf seinem Platz im Stadtkern. Hier wird auch Markt gehalten: Die Holzbuden, die den Händlern als Verkaufsstände dienen, werden vor dem Schloss aufgebaut. Diese Marktbuden müssen zu Beginn des 20. Jahrhunderts anderen Gebäuden weichen.
Im Jahr 2000 werden fünf der sechs Steinpfeiler entfernt. Die inzwischen kranke und altersschwache Linde wird im Jahr 2003 aus Sicherheitsgründen gefällt. In einer bei dieser Gelegenheit angefertigten dendrochronologischen Studie wird das Alter der Linde auf rund 273 Jahre geschätzt. Im Frühjahr 2004 lässt die Stadt eine neue Linde pflanzen. Durch eine Öffnung im Boden ist die mittelalterliche Pflasterung zu sehen, die beim Ausgraben des alten Baumstumpfs zum Vorschein kommt.
© Musée Gruérien, Zeitung La Gruyère und Amt für Kulturgüter des Kantons Freiburg
Legende der Archivphotos:
Bulle, Place du Tilleul, gegen 1910.
© Charles Morel, Musée Gruérien